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Es ist alles noch da!

Gerda Lau musste als Kind 1944 ihr Dorf im damaligen Westpreußen verlassen. Ein Projekt der Europa-Universität Viadrina hat ihr geholfen, die Orte der Kindheit wiederzufinden. Protokoll einer Reise in die Vergangenheit.

Schon im Flugzeug ahnt Gerda Lau: Diese Reise wird das größte Abenteuer ihres Lebens. Sie spürt, was die Spurensuche in ihr aufwühlen wird. Deshalb möchte sie, geborene Lau, ihren heutigen Nachnamen nicht in der Zeitung lesen. Begonnen hat das Abenteuer mit einem Brief ihrer Tochter Ilka an das Büro der "Heimatreise". Unter diesem Namen recherchieren an der Viadrina-Universität in Frankfurt (Oder) 16 Studenten ehrenamtlich für deutsche Familien, die aus Polen vertrieben wurden. Nicht nur das: Sie organisieren für sie und ihre Nachkommen auch Reisen zu den Orten der Kindheit.

Die Geschichte der Familie Lau aus dem süddeutschen Erzingen ist ein typischer Fall für die Studenten: Seit über 60 Jahren, schreibt Tochter Ilka im Brief, lebe ihre Mutter im Glauben, ihr Heimatort sei zerstört worden. Mit 69 Jahren jedoch wolle sie nun wenigstens das Haus ihrer Großeltern im Nachbardorf aufsuchen. Mit Glück vielleicht doch das Elternhaus finden, das sie 1944 mit ihrer Mutter fluchtartig verlassen musste. Immer habe sie den Gedanken in sich getragen: Da muss noch etwas sein! Seit den Achtzigerjahren forschen die Töchter nach dem Heimatort ihrer Mutter. Erst beim DRK, dann bei Familienforschungs-Einrichtungen, später im Internet. Per Zufall stieß Ilka auf die "Heimatreise".

Die Idee zu diesem Projekt entwickelten die Studenten 2004, als die PreuÃ?ische Treuhand angekündigt hatte, Grundbesitzanspräche vor internationalen Gerichten einzuklagen. "Wir wollen einen Beitrag zur Versöhnung vor dem Hintergrund der Vertreibung leisten", sagt Koordinatorin Jacqueline Nießer. Der ARD-Zweiteiler â??Die Fluchtâ?? verhalf der "Heimatreise" zum Durchbruch. Nicht nur aus Deutschland, sondern auch aus dem Ausland kommen seitdem die Anfragen. "Man muss nicht mehr befürchten, in eine rechtskonservative Ecke gestellt zu werden", sagt Jacqueline Nießer.

Wenige Monate nach der Suchanfrage beginnt für Familie Lau die Reise. Sie führt Ilka, Britta und ihre Mutter Gerda erst nach Danzig und ins Dorf Tomken im ehemaligen Westpreußen. Ihre Reise wurde von Magda Abraham-Diefenbach und Matthias Diefenbach in akribischer wochenlanger Recherche ausgearbeitet. Auf der Suche nach dem Geburtsort von Gerda Lau mussten sie einen Ort finden, an den ihre Auftraggeberin selbst nur vage Kindheitserinnerung hat. Die Studenten studierten historische Karten und Geschichtslexika, befragten in Polen versierte Lokalhistoriker und Dorfschulzen. Auch in Erzingen war man nicht untätig.Verwandte in den USA, die aus dem gleichen Heimatort stammen, wurden befragt: Gab es dort im Dorf eine Kirche oder ein markantes Rathaus? Welche Stadt liegt in der Nähe? "Ich kam mir bald vor wie Columbo bei seiner detektivischen Spurensuche", sagt Ilka. Allmählich fügten sich die Informationssplitter zusammen und fokussierten sich auf einen Ort: Swierczyny.

Auf dem Weg zur ersten Station, dem Dorf Tomken, steht eine lange Autofahrt bevor. Während der Fahrt auf aschgrauen Landstraßen tauchen sie ein in ein Land mit endlosen Horizonten und malerischen Wolkengebirgen. Sie fahren an Dörfern vorbei, wo auf Schornsteinen Störche nisten, und an Gärten, in denen Horden von Gänsen umherlaufen. Sie fahren vorbei an riesigen Erdbeerfeldern, in denen Frauen mit gekrümmten Rücken Beeren pflücken. Und immer wieder an Seen. Es ist die Landschaft ihrer Kindheit. Die "Heijmat".

Vor ihrem inneren Auge sieht Gerda Lau die Bilder von jenem schrecklichen Wintertag des Jahres 1944 heraufziehen, als sie mit ihrer Mutter über Nacht fliehen musste. Wie Vieh wurden sie in Zugwaggons gepfercht.

Ein Meer von Satellitenschüsseln holt sie abrupt zurück in die Gegenwart. Angekommen im Tomken, beginnt Reiseleiter Matthias Diefenbach, betagte Dorfbewohner nach Deutschen zu fragen, die hier einst gelebt haben. Sie besuchen hier einen Friedhof, klopfen dort an eine Tür. Nach und nach kristallisiert sich ein Haus heraus, zu dem sie schließlich eine alte Frau führt. "Das muss das Haus meiner Großeltern sein!", ruft Gerda. Doch: Gab es hier nicht einmal eine Allee?, und: Wo ist das Bienenhaus? Spontan klopfen sie trotz leichter Zweifel an die Haustür. Kinder öffnen, Hunde bellen. Die Bewohner reagieren skeptisch, als sie Deutsch hören. Bange Sekunden folgen. Sofort schießt es Gerda durch den Kopf: Sie denken vielleicht, dass wir das Haus wiederhaben wollen! "Die Dame möchte das Haus ihrer Großeltern nur noch einmal sehen", stellt Matthias Diefenbach klar. Er ist jung, spricht Polnisch - der perfekte Türöffner. Die polnische Familie lebt erst seit 30 Jahren auf dem Anwesen, sie weiß nichts über die Laus. Gerda Lau ist dennoch überglücklich: Sie hat das richtige Haus gefunden.

Zu Ende ist die Reise noch lange nicht. Swierczyny steht auf dem Plan, jener Ort, von dem Gerda Lau lange glaubte, es gebe ihn nicht mehr. Ein idyllisches Dorf mit hübschen Bauernhöfen und Straßen, an deren Wegrändern hüfthoch das Unkraut wuchert. Wie einst sitzen die Alten unter Bäumen und erzählen. Der erste Termin dieses Tages führt sie in eine Schule, wo die Direktorin einen kleinen Empfang vorbereitet hat. Auch das wurde von den Viadrina-Studenten sorgsam eingefädelt. Gerda kann ihren Töchtern erstmals ihr Schulhaus zeigen.

Als Gerda den Klassenraum betritt, in dem auch sie einst saß, klingt es aus zwanzig polnischen Kehlen: "Guten Tag!" Die Gespräche in der Schule hört zufällig auch ein Installateur mit, den das Anliegen der deutschen Gäste offenbar rührt. Der Mittvierziger denkt nach, wer von den Alten im Dorf diese deutsche Familie nach so vielen Jahren noch kennen könnte, und lädt die kleine Reisegruppe erst einmal zu sich nach Hause ein.

Ihnen soll es an nichts fehlen, und so deckt er für sie süßes Spitzgebäck und Getränke. Im Schrank stehen Kristallgläser, die nur für besonderen Besuch zum Einsatz kommen. "Na zdrowie", prostet der Installateur ihnen zu. Gerda streicht sich ungeduldig den Rock glatt, Ilka knetet ihr Taschentuch. Nach einigen Telefonaten führt er nun jenen Mann in seine Küche, der die Laus kennen soll. Einen Augenblick lang ist es so still, dass man die Löffel an die Porzellantassen schlagen hört. Lächelnd tritt der Noch-Fremde ein, mustert die Gäste aus Deutschland. Gerda zeigt ihm das Foto ihrer Mutter aus dem Jahr 1944. "Ja, ja", sagt der 76-Jährige in deutscher Sprache, "ich habe ihre Mutter gekannt!" und: "Es ist alles noch da!"

Als sie mit dem Mann durch das Dorf fahren, entdeckt Gerda ihr Elternhaus. Die großen Scheunen, der Brunnen, der alte Baum, alles ist noch da. Sofort steigen Kindheitserinnerungen hoch: War es nicht erst gestern, als sie helfen musste, das viele Heu in die große Scheune zu scharren, um es vor einem Unwetter in Sicherheit zu bringen? War es nicht vor kurzem, als sie barfüßig den Hühnern auf dem Innenhof hinterherlief? Sie schließt die Augen und spürt den Duft ihrer Kindheit, den Geruch von Heu und Torf. Sie klopft spontan an - und wird eingelassen.

Erstmals seit über 60 Jahren betritt Gerda die Wohnung ihrer Eltern. In der Küche, steht sie vor dem Ofen, in demihre Mutter einst Brot gebacken hatte. "Unglaublich", flüstert sie, während ihre Töchter Fotos machen.

Mit jeder Stunde wird die Reise zu einem Trip mit irrwitzigen Zufällen: Der alte Herr von vorhin wohnt gleich gegenüber ihres einstigen Elternhauses. Spontan lädt der Schweinezüchter zu einer Kaffeetafel zu sich ein. Wieder taucht Gerda ein in einen fremd-vertrauten Kosmos ein. Die ganze Familie, Jung und Alt, sitzt an einem festlich gedeckten Tisch. Man erzählt sich über die gemeinsamen Erinnerungen bis zu jenem Winter 1944, und es wird viel über das Schlachten und die Schweinezucht geredet, wie man Sülze macht und Schweinefüße zubereitet. Matthias Diefenbach übersetzt. Wer dieser Runde lauscht, könnte nicht glauben, dass sich unter ihnen zwei Menschen gegenübersitzen, die sich 63 Jahre lang nicht gesehen haben. Gerda Lau wischt verstohlen eine Träne aus ihrem Gesicht. "Wann kommst du wieder?", wird die Deutsche zum Abschied gefragt.

Angekommen in der Herberge, wollen sich die "Heimatreisenden" nach diesem ereignisreichen Tag schon schlafen legen, als Matthias Diefenbach ein Anruf ereilt. Wieder taucht jemand scheinbar aus dem Nichts auf, den Gerda kennen soll: das ehemalige Kindermädchen der Familie. Sie hat über Umwege durch einen Angestellten des Installateurs wohl erfahren, wer zu Besuch in Swierczyny ist, und drängt auf ein Wiedersehen. Am nächsten Tag begibt sich Gerda mit ihren Töchtern zur besagten Adresse. Auf dem Weg dahin sagt sie jedoch lakonisch: "Das muss eine Verwechslung sein. So viel Glück gibt es gar nicht." Doch erneut kommt es zueinem warmherzigen Wiedersehen. Die Töchter werden Zeugen einer ArtFamilienzusammenführung: Über all die Jahre hat sich die heute 79-Jährige gefragt, ob Familie Lau die Flucht überlebt hat. Als Polin konnte sie ihnen 1944 nicht in den Westen folgen. Gerda schildert ihrerseits Flucht und Ankommenim niedersächsischen Brunsbüttel. Wie sie aufgrund ihrer Herkunft im Alltag gegängelt wurden. Wie ihre Mutter bei Kerzenlicht Norwegerpullover stricken musste, um die Familie durchzubringen. Die ehemalige Kinderfrau holt ein vergilbtes Foto von Gerdas Mutter aus einer Schachtel. Sie hat es 63 Jahre lang aufbewahrt

Auf dem Rückflug fühlt sich Gerda auf seltsame Weise verwandelt. Sie war mit wenig Hoffnung nach Polen gereist und ist nun zutiefst dankbar. Polnisch möchte sie in ihrem Alter nicht mehr lernen. Aber sie möchte häufiger auf die andere Seite der Oder verreisen. Wieder zu Hause in Erzingen, verpackt sie alle Dokumente der Heimatreise in einer hübschen Schachtel. Tochter Ilka schickt Reiseberichte und Fotos zu ihren Verwandten nach Nebraska und Michigan. Lächelnd sagt sie: "Die wollen jetzt auch dorthin!"

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Text: Vera Rütimann © Rheinischer Merkur Nr. 27, 05.07.2007

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